Liebe braucht keine Hexerei

 

Der Sitzstreik

 

„Ich weiche hier nicht eher von der Stelle, bis Sie mir einen Job geben“, betone ich kampfeslustig und setze mich demonstrativ auf den kalten Fußboden vor diesen kleinen knochigen Mann, der gerade dabei ist, meine Zukunft in nur einer einzigen Minute zu ruinieren. 

„Wir haben keinen Bedarf“, ist seine vorschnelle Antwort, ohne mich auch nur einmal nach meinen Eignungen zu fragen. Auch wenn ich eigentlich keine nennenswerten Fähigkeiten für die Arbeit auf einem Gutshof mitbringe, so habe ich doch wenigstens das Recht, danach gefragt zu werden. 

Ich brauche dringend Arbeit. Andernfalls kann ich meine weiteren Zukunftspläne an den Nagel hängen, denn Zukunftspläne kosten Geld. So ist das nun mal im Leben. Ich denke nicht daran, so schnell aufzugeben! Schließlich bin ich nicht nach Irland gereist, um ein paar Wochen später zurück nach Schottland zu fahren. Nein, mein Lieber, da hast du die Rechnung nicht mit mir gemacht! Ich, Jennifer Robertson, bin eine Kämpfernatur und wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt habe, gibt’s gewissermaßen keine Hindernisse für mich! 

So gesehen gibt es schon hin und wieder welche, aber ich versuche, sie beharrlich zu überwinden. Na gut, ich will ehrlich sein, die Überwindung von Hindernissen gelingt mir nicht öfter als jedem anderen Menschen, aber zumindest scheue ich mich nicht vor einer ausgiebigen, aber leider nicht selten vergeblichen Kontroverse, gleichwohl mit überzeugenden Argumenten zur Vertretung meines Standpunktes. In diesem Augenblick beispielsweise überzeugt mein Sitzstreik außerordentlich und nervös zappelt der knochige Mann um mich herum. 

„Um Himmels willen, so stehen Sie doch endlich auf. Wenn Mr. Barclay Sie so sieht.“

„Ja, was passiert denn, wenn er mich so sieht? Bekomme ich dann einen Job?“

„Sie können mir glauben, dass Ihnen das bloß Ärger einbringt, aber keinen Job.“

„Wissen Sie, das bin ich gewohnt. ‚Ärger‘ ist gewissermaßen mein zweiter Vorname.“

Mir ist natürlich klar, dass Mr. Barclay, auf dessen Anwesen ich mein kleines Sit-in verübe, mich in dieser Sitzposition möglichst nicht vorfinden sollte. Ich kenne ihn nicht weiter, nur seinen Namen – und seinen fragwürdigen Ruf. Falls an den Gerüchten etwas dran sein sollte, könnte er überaus cholerisch sein – und auf Schreiattacken bin ich heute nicht eingestellt. Für gewöhnlich bin ich allerdings für solche Fälle gerüstet. Da ich aber neu in dieser Gegend bin und dringend Geld benötige, bröckelt meine Selbstsicherheit ein wenig. Aus diesem Grund wäre ich verbalen Angriffen diesmal schutzlos ausgeliefert. Daher bin ich plötzlich geneigt, „Knochis“ Ermahnungen Folge zu leisten und mich vom Boden zu erheben. Ich sitze ja praktisch inmitten des Innenhofes und habe einen guten Blick auf das prachtvolle Gebäude mit seinen Stallungen und Nebenhäusern. Nicht unwesentlich an diesem Sachverhalt ist, dass man von allen Fenstern sämtlicher Gebäude wiederum gewiss einen ausgezeichneten Blick auf den Innenhof hat – demzufolge auch auf mich. 

„Nun stehen Sie doch bitte auf oder wollen Sie, dass ein Unglück passiert?“, ermahnt mich „Knochi“ erneut.

Was? Könnte es ein noch größeres Unglück geben, als keine Arbeit zu haben?

Rosefield, Mr. Barclays Gehöft, ist das einzige in dieser Gegend und sein gewaltiges Gut gibt über einem Drittel der hier ansässigen Menschen Arbeit. Es ist so gut wie ausgeschlossen, an anderer Stelle nach Arbeit zu fragen – absolut aussichtslos. Ich muss hier einfach arbeiten, eine andere Lösung gibt es nicht. Meine gerade bezogene Wohnung und die Schule müssen finanziert werden. 

„Mr. ...“ Wie soll ich ihn anreden? „Knochi“ ist sicher nicht sein richtiger Name.

„Mein Name ist Downey“, klärt er mich auf.

„Gut, Mr. Downey, ich flehe Sie an, Ihre Entscheidung zu überdenken. Es gibt keine Arbeit, die ich nicht bereit wäre anzunehmen. Und ich garantiere Ihnen, dass ich ordentlich und zuverlässig bin.“

In diesem Augenblick kommt Mr. Barclay mit einem Geschäftspartner aus dem Haus und sieht erstaunt zu uns herüber. Oha, jetzt gibt’s Ärger! Halt dich gut fest, Jenny. Ein Sturmtief kündigt sich an. 

„Was ist denn hier los?“, fragt Mr. Barclay unwirsch, nachdem er uns erreicht hat. Sein Geschäftspartner sieht von Weitem zu uns herüber und begibt sich ebenfalls interessiert in unsere Richtung. Auch noch Zeugen. Wie unpassend.

Mr. Downey zeigt mit seinem Finger auf mich und redet aufgeregt drauflos. Pack deinen unverschleierten Finger wieder ein! Das ist ungezogen!

„Mr. Barclay, diese junge Dame will einfach nicht einsehen ... Sie hat nach einer Anstellung gefragt ... Jetzt ist sie in den Sitzstreik getreten ... Was hätte ich tun sollen? ... Es ist mir schrecklich unangenehm. Bitte entschuldigen Sie die Unannehmlichkeiten, aber sie will nicht hören. Ich weiß ja auch nicht ...“

Mr. Barclays Gesichtszüge entgleisen. Wahrscheinlich kann ich seine aufbrausende Ader gleich live erleben. Oh, jetzt wird es spannend. Dabei kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, dass dieser Mann die Fassung verlieren könnte. Er ist attraktiv und attraktive Männer sind in meiner Vorstellung schlichtweg nicht jähzornig. 

„Sehen Sie zu, dass Sie der Dame einen Posten beschaffen“, sagt er mit einem Mal unerwartet. „Sie sehen doch, dass ich Besuch habe. Was glauben Sie, was dieser Zirkus für einen Eindruck macht?“

„Aber wir haben nichts frei. Alle Stellen sind besetzt. Wo soll ich sie einsetzen?“

„Mr. Downey, Sie sind für die Koordination aller wichtigen und nichtigen Dinge zuständig. Wenn ich Ihnen solche Fragen beantworten könnte, bräuchte ich Sie hier nicht. So viel Verstand sollten Sie schon selbst besitzen, um dieses lästige Problem zu lösen.“

Mr. Barclays Blick fällt auf mich. 

„Kennen Sie sich mit Pferden aus?“

Kreidebleich schaue ich ihn an. Oh je, muss er mich ausgerechnet nach Pferden fragen?

„Ich bin als Kind mal auf einem Pony geritten.“

Verlegen kratze ich mich hinterm Ohr. Was für eine blödsinnige Antwort. Ich hätte auch einfach nein sagen können, aber das wäre ja zu simpel gewesen. Wenn’s richtig drauf ankommt, plappere ich dummes Zeug. Und jetzt kommt’s richtig drauf an. Mir fehlt in den ausschlaggebenden Momenten oft das Verhandlungsgeschick. Das muss ich dringend üben. Wie auch immer, mit Pferden kenne ich mich nicht die Bohne aus. Diese Tiere sind mir viel zu groß und ehrlich gesagt fürchte ich mich vor ihnen – und sie sich vor mir. 

„Knochi“ wird zunehmend nervös, denn ihm entgeht genauso wenig wie mir, dass Mr. Barclay ungeduldig wird. 

„Können Sie kochen? Wie sieht es mit Ihren hauswirtschaftlichen Fähigkeiten aus?“, fragt er angespannt, denn ihm sitzt sein Geschäftspartner im Nacken, der zusehends näherkommt.

„Leider kann ich nicht kochen, aber wenn ich mir Mühe gebe, zaubere ich Ihnen zumindest ein nahezu schmackhaftes Omelett.“

Gut gemacht, Jenny! Wenn du weiterhin nicht mehr Talent als ein Strohballen vorzuweisen hast, kannst du die Hoffnung auf eine Anstellung auf diesem Hof endgültig begraben. 

Ich zwinkere mit einem Auge, doch Mr. Barclay schaut konsterniert auf mich.

„Sie werden doch wohl irgendetwas können.“

Aber ja, ich kann „Kranke pflegen“. Nur dieses Talent nützt mir hier wahrscheinlich nicht viel. Verdammt, ich verspiele jegliche Chance auf einen Job. Mr. Barclay ist bereit, mir jede erdenkliche Arbeit aufzudrängen, nur um mich schnellstens aus seinem Innenhof zu vertreiben. Das sind doch recht gute Aussichten – und das alles ohne cholerisches Geschrei. Die Anwesenheit seines Besuchs zwingt ihn dazu, sich gut zu benehmen. Warum preise ich meine nicht vorhandenen Talente nicht etwas mehr an? Weil ich nicht lügen kann. Selbst unter größten Mühen gelingt mir das nicht. Meine Tante hat mich zur Ehrlichkeit erzogen. Dafür könnte ich sie heute noch erwürgen. Was hat sie sich bloß dabei gedacht? Wer sagt schon unablässig die Wahrheit? 

„Also gut“, bemerkt Mr. Barclay nun verfügend, „die Stallgasse werden Sie ja wohl noch fegen können. Und erheben Sie sich jetzt sofort von meinem Grund und Boden, bevor ich mir meine Entscheidung wieder überlege!“

Freudestrahlend erhebe ich mich und bin geneigt, Mr. Barclay für dieses bescheidende Arbeitsangebot um den Hals zu fallen. Doch ich halte mich schweren Herzens zurück.

Ich darf die Stallgasse fegen! Das ist ja wunderbar! 

„Danke, Mr. Barclay. Das ist wirklich großzügig von Ihnen.“

„Mr. Downey klärt alle weiteren Formalitäten mit ihnen, Miss ...?“

„Oh, Robertson ist mein Name, Jennifer Robertson.“ 

„Gut, Miss Robertson. Also dann ...“, sagt er abschließend und wirft mir einen irritierten Blick zu. Offensichtlich fragt er sich selbst, was er gerade getan hat. Er hat einer Verrückten, die seinen Innenhof besetzt hielt, einen Job gegeben, obwohl sie für die Arbeit auf einem Gutshof eindeutig untauglich ist. Das muss ihm sofort klar gewesen sein. 

 

Am nächsten Morgen erscheine ich pünktlich um neun Uhr zum Arbeitsantritt. Mr. Downey erwartet mich bereits und drückt mir einen großen Besen in die Hand.  

„So, dann zeigen Sie mal, wie gut Sie im Fegen sind. Es gibt hier drei Stallgebäude. Ich hoffe, die Arbeit wird Ihnen nicht zu viel“, amüsiert sich „Knochi“ und zwinkert mir zu. „Ihr gestriger Auftritt hat sich herumgesprochen. Einige Mitarbeiter sind schon neugierig auf Sie. Ich bin mir sicher, dass Sie sich schnell einleben werden. Herzlich willkommen!“ 

Er reicht mir seine dünne Hand. Das ist doch schon mal ein guter Anfang.

 

Am Nachmittag, als ich den Besen für eine Verschnaufpause beiseitelege, bekomme ich überraschend Besuch. Eine junge attraktive Dame in meinem Alter betritt den Stall und eilt in einem hastigen Tempo auf mich zu.

„Wenn du glaubst, dass du hier so reinschneien kannst, um mir ein zweites Mal das kaputt zu machen, was ich mir erarbeitet habe, täuschst du dich gewaltig. Ich werde das nicht zulassen.“

Wow! Veronica Stephens. Wir kennen uns seit der Schulzeit und haben im selben Krankenhaus in Edinburgh gelernt. Während ich mich zu einer passablen Krankenschwester entwickelte, blieb sie auf dem Stand einer Vorzeitheilerin stehen. Das scheint sie mir ewig übel zu nehmen. Dabei bin ich vollkommen schuldlos an ihrer Misere. Trotzdem sieht es so aus, als ob sie mich heute noch für alles verantwortlich macht. 

„Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Veronica. Es ist nicht meine Absicht, dir irgendetwas wegzunehmen. Ich brauchte lediglich einen Job. Oder möchtest du lieber die Stallgassen pflegen?“, frage ich mit einem ironischen Unterton.

„Sei nicht albern“, erwidert sie, „zu solch einer Arbeit würde ich mich nicht herablassen.“

„Na bitte, dann hast du ja kein Problem mit mir. Denn ich mache diesen Job gern.“

„Du hast dich schon früher durch die Hintertür eingeschlichen und mich ins Abseits gedrängt.“

Langsam bin ich ernsthaft verärgert. Sie hat kein Recht, so mit mir zu reden. Schließlich habe ich ihr damals aus der Patsche geholfen. Offenbar hat sie ein verschrobenes Bild der Realität. Ich werde ihrem Gedächtnis mal auf die Sprünge helfen. 

„Du weißt genau, Veronica, dass du dir alles selbst zuzuschreiben hast. Du solltest dir die Wahrheit eingestehen.“

Sie wirft ihr blondes Haar energisch nach hinten und sieht mich provozierend an.

„Ich warne dich, Jennifer, solltest du deine Nase zu tief in Angelegenheiten stecken, die dich nichts angehen, werde ich dafür sorgen, dass du in dieser Gegend keinen Fuß mehr auf den Boden bekommst.“

Wie eine Dampflok stampft sie hinaus und knallt rabiat die Tür ins Schloss.

Diese unerfreuliche Begegnung könnte mir hier den guten Start verderben. Am besten gehe ich Veronica möglichst aus dem Weg. Dann dürfte sich der Sturm im Wasserglas schon wieder legen. Hoffe ich.

Ich höre leises Lachen hinter mir. Erstaunt drehe ich mich um und erblicke „Knochi“, der das unschöne Wiedersehensgespräch zwischen Veronica und mir detailgenau mitbekommen haben muss, denn er arbeitete unbemerkt in einer der hinteren Pferdeboxen. 

„Sie sind ein couragiertes, furchtloses Mädchen. Ich kann mir vorstellen, dass Sie für Veronica Stephens eine gefährliche Konkurrenz werden könnten.“

„Aber nein, ich habe keine Ambitionen auf eine Beförderung. Ich möchte nur in Ruhe meine Arbeit machen und genügend Zeit zum Lernen finden. 

„Wir werden sehen“, murmelt „Knochi“ vieldeutig. 

Weiß er bereits etwas, was mir bislang verborgen blieb? Dann würde ich es gern erfahren. 

 „Wie meinen Sie das?“, will ich wissen.

Grinsend verlässt der alte Mann den Stall. Von einer Erklärung keine Spur. Seltsamer Kauz.

 

Nach ein paar Tagen habe ich mit einigen Mitarbeitern des Hofes Bekanntschaft gemacht. Die meisten von ihnen sprachen mich bewundernd auf meinen wagemutigen Sitzstreik im Innenhof an und konnten es kaum fassen, dass ich auf diese Weise zu einem Job gekommen bin. Tja, hätte ich auch nicht gedacht. Aber Hartnäckigkeit zahlt sich anscheinend aus. Das ist genetisch bedingt. Ich kann nix für meine Starrköpfigkeit. Meine Tante ist wesentlich anstrengender als ich, was dazu führt, dass sich viele vor ihr fürchten. 

 

Mir ist nicht entgangen, dass „Knochi“ für die Aufgaben im Stall zu alt geworden ist. Seine Gesundheit leidet unter der schweren Arbeit und nicht selten schafft er sein Pensum nicht mehr in der vorgeschriebenen Zeit. Daher greife ich ihm unter die Arme und helfe ihm beim Ausmisten der Ställe. 

Gedankenverloren stehe ich in der leeren Pferdebox und hebe das schmutzige Stroh auf die Mistgabel, um es in die Schubkarre fallen zu lassen, als sich meine Freundin Veronica Stephens meinen Bemühungen in den Weg stellt. 

„Was hast du hier verloren? Ich kann mich nicht erinnern, dass Ställe ausmisten zu deinen Aufgaben gehört! Für dich ist einzig und allein der Besen reserviert.“

Und sie scheint mir für die Aufgabe des Hofdrachens genau die Richtige zu sein. Es kann ihr doch egal sein, was ich mache, solange die Stallgassen immer sauber sind. Das Fegen füllt meinen Arbeitstag schließlich nicht aus. Und wenn ich Mr. Downey dabei helfen kann, sich zu schonen, ist das letztlich nur gut für alle Beteiligten.

„Ich verstehe nicht, wo dein Problem ist, Veronica? Solange wir beide uns nicht in die Quere kommen, kannst du doch beruhigt sein. Ich will dir nichts wegnehmen und habe kein Interesse an Pferden. Du hast also nichts zu befürchten.“

Wie ich inzwischen erfahren habe, ist Veronica als Bereiterin angestellt. Da könnte ich ihr, selbst wenn ich es wollte, niemals den Rang ablaufen. Pferde hassen mich – jedenfalls glaube ich das.

„Bitte sehr, du willst also nicht hören. Dann werde ich wohl ein ernstes Gespräch mit Mr. Barclay führen müssen, ob Mr. Downey noch auf dem Hof benötigt wird. Sollte er gekündigt werden, kannst du es allein dir zuschreiben.“

 „Das meinst du nicht ernst, Veronica!“

Was für eine fiese Methode, Unschuldige in unsere Streitereien mit hineinzuziehen. Auf keinen Fall werde ich das zulassen!

„Unter diesen Umständen lässt du mir keine andere Wahl. Wir bezahlen doch nicht zwei Kräfte für die gleiche Arbeit.“

Hocherhobenen Hauptes verlässt sie den Stall. Dem Anschein nach erhebt sie Ansprüche auf eine Alleinherrschaft über alles und jeden. Wütend über ihre Worte, schiebe ich die Schubkarre in den Hof, um das verdreckte Stroh auf den Misthaufen fallen zu lassen. Ich höre lautes Pferdegetrappel rasant näherkommen. Als ich mich umdrehe, sehe ich, wie David Barclay im flotten Galopp auf mich zugeritten kommt. Er wird mich hoffentlich nicht umreiten! Meine Güte, wann hält er endlich an? Oder funktionieren die Bremsen an seinem Pferd nicht richtig? 

Knapp vor meiner Nasenspitze kommt das tollwütige Pferd zum Stehen. Zur Begrüßung schnaubt es mir direkt ins Gesicht. Bevor ich etwas auf seine ungestüme Reitattacke bemerken kann, springt Mr. Barclay aus dem Sattel und drückt mir die Zügel in die Hand.

„Hier, halten Sie das Pferd einen Augenblick, ich bin gleich zurück!“, fordert er von mir und will sich aus dem Staub machen, als er erstaunt zurückschaut.   

„Wer sind Sie eigentlich?“, fragt er mich verdutzt und kratzt sich im gleichen Augenblick am Kopf.

Leider gelingt es mir nicht, ihm seine Frage zu beantworten, denn aus irgendeinem Grund scheine ich das Pferd nervös zu machen. Da haben wir wieder mein Problem. Hab ja gleich gesagt, dass ich kein Händchen für diese Tiere habe. 

Angestrengt bemühe ich mich, es ruhig am Zügel zu halten, aber dummerweise wehrt es sich immer heftiger dagegen. 

Meine Tante sagte mal, dass meine Aura die Tiere verunsichere. Das hilft mir natürlich sehr. Was ist eine Aura? 

Das Pferd hat mehr Kraft als ich. Gleich hat es sich losgerissen.

„Meine Güte, Sie werden doch noch ein Pferd halten können!“, fährt mich Mr. Barclay verständnislos an. Aufgebracht kommt er zu mir gelaufen und entreißt mir die Zügel. Erstarrt sehe ich ihn an.

Aber ... aber ich kann nichts dafür, oder doch?

Wie durch ein Wunder beruhigt sich das Pferd wieder und steht regungslos da, als sei nichts gewesen. Mr. Barclay sieht mich nachdenklich an.

„Sind Sie nicht diese Frau ... wie war gleich Ihr Name?“

„Robertson heiße ich, Jennifer Robertson. Und ich bin diejenige, ja.“

Sein eben noch raubeiniges Wesen verwandelt sich mit einem Mal in ein durchaus heiteres. Kann meine Anwesenheit dies verursacht haben? Ich dachte, meine Aura verschreckt alle?

„So, so, Miss Robertson, ich denke, vor Ihnen sollte man sich in Acht nehmen. Ihre Vorstellung an diesem Tag hat mich ganz schön verwirrt. Obwohl ich Sie von meinem Grundstück hätte verweisen müssen, habe ich Ihnen tatsächlich eine Anstellung gegeben. Wie ist Ihnen das nur gelungen, mich auf diese Weise breitzuschlagen? Ich konnte meine Entscheidung danach überhaupt nicht mehr nachvollziehen. Sie scheinen mit ihrer Persönlichkeit überzeugende Signale auszusenden. Mir blieb so gesehen nichts anderes übrig.“

Er lacht nach seinen letzten Worten. David Barclay besitzt Humor. Der gefürchtete Choleriker hat liebenswerte Seiten. Also kann er kein so schlechter Mensch sein. 

„Sie hatten noch Glück, Mr. Barclay. Normalerweise arbeite ich mit schwarzer Magie. Allerdings gehören Innenhofbesetzungen zu meinen weltlichen Spezialitäten.“

„Verstehe. Dann bin ich für die Zukunft ja gewarnt. Ich hoffe nicht, dass ich mit dieser Magie Bekanntschaft machen muss“, bemerkt er schmunzelnd.

„Keine Angst, meine Zauberkünste benutze ich bloß in absoluten Notsituationen.“

„Bei diesen außergewöhnlichen Talenten sollte es sicher kein Problem für Sie sein, das Pferd einen Augenblick ruhig zu halten, bis ich zurück bin.“

Lächelnd hält er mir die Zügel hin.

„Oh, Mr. Barclay, ich flehe Sie an. Bitte lassen Sie mich nicht mit dem Pferd allein. Irgendwie habe ich kein Händchen für Tiere. Sie mögen mich nicht. Ich weiß selbst nicht, woran das liegt, aber immer, wenn ich einem Tier zu nahe komme, reißt es aus. Wenn Sie Ihr Pferd für die kommenden Wochen nicht mehr benötigen, können Sie jetzt selbstverständlich gehen. Bestimmt kommt es eines Tages von allein zurück. Bitte tun Sie, was Sie tun müssen, aber sagen Sie später nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt.“

Mr. Barclay lacht belustigt. Wer hat mir denn erzählt, er könnte nicht lachen? Vielleicht besitze ich ja doch übernatürliche Kräfte. 

„Passen Sie auf, Miss Robertson, das ist beinahe so einfach wie Magie.“

Er nimmt meine Hand und legt die Zügel hinein. 

„Sie müssen die Zügel nur kürzer halten. So ist es richtig. Nun schließen Sie fest Ihre Hand und stellen sich neben das Pferd. Sie müssen sich in die Augen schauen können. Sehen Sie? Ist doch gar nicht schlimm. Und jetzt schön so stehen bleiben und nicht bewegen, bis ich wieder da bin.“

Langsam schleicht Mr. Barclay davon und dreht sich dabei einige Male kontrollierend nach uns um. Ängstlich schaue ich dem Pferd in das große schwarze Auge. Es spitzt seine Ohren und schaut auf mich herab. Habe ich gerade Freundschaft mit einem Pferd geschlossen? Es scheint mich plötzlich zu akzeptieren. Wie versteinert stehen mein neuer Freund und ich geschlagene zehn Minuten regungslos im Hof und warten, bis ich mich das erste Mal wage, mit meiner anderen Hand vorsichtig über den Hals des Pferdes zu streichen. Es beugt den Kopf zu mir herab und knabbert an meinem schulterlangen Haar. Ich bin fassungslos. Das muss ich unbedingt meiner Tante berichten. Womöglich ist mir meine Aura abhandengekommen. 

Nach einer halben Ewigkeit kehrt Mr. Barclay zurück. 

„Na bitte, das hat doch wunderbar geklappt. Nur weiter so, Miss Robertson, und Sie haben eine steile Karriere als Pferdeflüsterin vor sich.“

Lachend löst er die Zügel aus meiner verkrampften Hand, schwingt sich aufs Pferd und reitet davon.

 

Aufgezäumt und abgezügelt

 

Inzwischen sind zwei Monate vergangen und ich habe mich recht gut eingelebt. Eh ich’s mich versah, hatte ich ein paar neue Freundschaften geschlossen. Meine wertvollste Freundschaft jedoch, die seit Beginn elementaren Bestand hat, ist die zu Charly, David Barclays Pferd. Seit jenem Tag trotte ich jeden Morgen zu seiner Box und versorge ihn mit Mohrrüben und Äpfeln. Sobald er mich in den Stall kommen hört, scharrt er aufgeregt an der Holztür seiner Box. 

Als ich meiner Tante während unserer regelmäßigen Telefonate von meiner für mich sonderbaren Freundschaft zu einem Tier berichtete, wusste sie sofort eine Erklärung dafür. Mein Leben nähme eine ungeahnte Wendung. Auf dem Gebiet der Hellseherei ist sie eine Expertin, denn sie ist eine Hexe. Zwar eine sehr moderne und besenlose, aber sie liest aus Kaffeesätzen, Händen, legt Karten und hat permanent Vorahnungen. Das kann mitunter ziemlich nerven, weil sie grundsätzlich alles besser weiß. 

George betritt den Stall, als ich Charly wieder einmal mit Leckereien verwöhne.

„Wenn du ihn weiter so mästest, wird er bald zu dick sein. Bestimmt wäre Mr. Barclay nicht begeistert, wenn er wüsste, dass du sein Pferd überfütterst.“

George ist als Vorarbeiter angestellt und hat die Verantwortung für alle Tiere, die sich auf diesem Hof befinden. Er nimmt seine Aufgabe sehr ernst, daher bin ich mir nicht sicher, ob meine außerplanmäßigen Fütterungen unter uns bleiben. Veronica übt großen Druck auf sämtliche Mitarbeiter aus und es ist nicht auszuschließen, dass George für sie herumspitzelt. Aus diesem Grund beschließe ich, zukünftig vorsichtiger bei meinen geliebten Fütterungsaktionen vorzugehen. Auf keinen Fall möchte ich mir diese einzigartige Freundschaft mit dem ersten Tier in meinem nunmehr dreiunddreißigjährigen Leben untersagen lassen müssen. 

„Nein, keine Angst, ich habe ihm bloß eine Möhre gegeben – mehr nicht. Ich wollte ohnehin gerade gehen“, betone ich und mache mich auf den Weg nach draußen. 

„Du hast es gut, kannst jetzt Feierabend machen. Ich hab gleich einen dringenden Termin und nun soll ich Charly für Mr. Barclay satteln, weil Mr. Downey nicht mehr da ist. Oder würdest du vielleicht ...?“

Ich, ein Pferd aufsatteln? Weiß ich, wie das geht? Das kann im Grunde nicht so schwer sein, oder? 

„Ja klar, ich mach das schon. Geh nur“, biete ich freimütig an. „Kein Problem.“ 

Glaube ich. 

„Wirklich? Das ist ja großartig von dir. Vielen Dank! Du hast einen gut bei mir.“

Ich werde dich daran erinnern, falls du mich in Sachen Charly bei Mr. Barclay anschwärzen solltest.

„Ja, ja, nun zieh ab, bevor ich es mir anders überlege.“

Kaum habe ich mich umgedreht, ist George auch schon verschwunden. Ich hätte ihn wenigstens fragen sollen, wo ich die Ausrüstung für Charly finde. Verlassen und verloren stehe ich im Stall und biege mich in alle Richtungen. Dann kommt mir eine kluge Idee in den Sinn: in der Sattelkammer nachzusehen. Und tatsächlich, ich werde fündig. Unter Dutzenden von Sätteln finde ich, dank der akribischen Beschriftung, auch Charlys Sattel nebst Zaumzeug und Putzgegenständen. Blindlings werfe ich mir die Zügel über den Kopf, den Sattel über den Arm und angle mir mit der freien Hand den Koffer mit den Putzutensilien. Mühsam schwanke ich mit meiner Last aus der Sattelkammer, doch plötzlich verfange ich mich mit dem linken Bein im Zügel, dessen Schlaufe nachlässig von meiner Schulter gerutscht ist. Wie eine Schlinge zieht sich der andere Teil des Zügels um meinen Hals zu, denn mein Bein hat sich in den nach unten hängenden Riemen komplett verstrickt, und somit zieht sich der Knoten um meine Gurgel noch fester zu. Ich verliere das Gleichgewicht und falle samt Sattel und Koffer zu Boden. Mein Kopf schlägt auf dem harten Stein auf, doch das merke ich kaum. Das muss an meinem unverbesserlichen Dickkopf liegen. Denn als wäre nichts gewesen, stehe ich direkt wieder auf und klopfe mir den Staub von meiner Kleidung. Ein kleiner Sturz, na und! Ich werde es doch wohl schaffen, ein Pferd aufzuzäumen! 

Ein paar Minuten später steht Charly mit gespitzten Ohren in der Stallgasse und lässt sich genüsslich von mir striegeln. Soweit, so gut. Viel falsch machen kann ich dabei nicht. Aber jetzt kommt der schwierigere Teil: das Aufsatteln. Ich schaue mir den Reitsitz genau an. Wie herum kommt dieses blöde Ding? Ein paar Mal wechsle ich die Stellung des Sattels auf Charlys Rücken. Ich drehe ihn von links nach rechts, schiebe ihn nach vorn, dann weiter nach hinten. Die Zeit vergeht mit angestrengtem Nachdenken. Ich überlege hin und her und schlussendlich schaffe ich es, mich für eine Richtung zu entscheiden. Die meiner Meinung nach optimalste Lösung für die Position des Sattels auf dem Pferderücken ist zwar etwas abweichend von dem, was ich bisher so gesehen habe, aber es erscheint mir trotzdem irgendwie richtig. Daher ziehe ich optimistisch den Sattelgurt um Charlys Bauch zu. Gleichzeitig kontrolliere ich, ob seine Augen aus den Augenhöhlen hervorquellen, für den Fall, ich hätte den Gurt zu fest gezogen. Dem scheint aber nicht so, daher widme ich mich frohgemut dem Zaumzeug. Natürlich bemerke ich sofort, dass ich hier vor einem fast unlösbaren Problem stehe. Ich habe nicht die geringste Ahnung, welcher Teil der Lederriemen an Charlys Kopf gehört und wo die Schnallen befestigt werden. Die Gebissstange halte ich für einen feschen Kopfschmuck und nach einigem Herumprobieren gelingt es mir, alles so an Charly zu befestigen, dass es passend aussieht. Die Gebissstange glänzt dezent an seiner Stirn und die Verschlüsse der Riemen sind fein sichtbar für jeden direkt auf der Oberseite seines Kopfes angebracht. Charly wirkt nicht so, als wäre ihm meine Konstruktion unangenehm, folglich gehe ich davon aus, dass ich alles richtig gemacht habe. Stolz reibe ich mir die Hände und betrachte mein Werk. Da wird Mr. Barclay aber staunen. Bestimmt hat das Aufzäumen bisher niemand so gut hinbekommen wie ich. Beschwingt gehe ich in den hinteren Teil des Stalles und suche nach meinem Besen. Versteckt in einer leeren Box finde ich ihn. Ich gehe hinein und höre im gleichen Augenblick cholerisches Geschrei von der Stalltür zu mir rüberhallen. 

„Verflucht noch mal, was ist das für ein alberner Scherz?! Welches Kamel hat diesen Blödsinn verzapft?! Mrs. Stephens, ich will sofort eine Erklärung für diesen Mist hier! Wer war das?!“

„Oh, Mr. Barclay, es tut mir leid“, erwidert Veronica Stephens und eilt herbei. „Ich kann mir das auch nicht erklären. Ich hatte George darum gebeten. Keine Ahnung, was er sich dabei gedacht hat.“ 

„Finden Sie den Verantwortlichen und schicken Sie ihn in mein Büro, und zwar sofort! Und sorgen Sie dafür, dass mein Pferd anständig aufgezäumt wird!“

Wütenden Schrittes entfernt er sich, während ich aus der Box springe, in der ich mich bis eben aufhielt. Blindlings laufe ich an Veronica vorbei und haste David Barclay hinterher. Es will mir nicht einleuchten, warum er sich derartig aufregt. Es gibt keinen Grund, in dieser Weise aus der Haut zu fahren. Das werde ich sofort klarstellen. Doch auf halbem Wege werde ich von Veronica aufgehalten.

„Da hast du dir ja einen netten Streich erlaubt. Mach nur weiter so, dann brauche ich für deine Entlassung nicht mehr zu sorgen. Das schaffst du offenbar ganz allein.“

„Du irrst, meine Liebe, ich habe nicht vor, meine Anstellung aufs Spiel zu setzen – auch wenn dir das gefallen würde. Du solltest dir deine verfrühte Schadenfreude aufheben. Vielleicht bietet sich später noch eine Gelegenheit dazu.“

Mit einem provokanten Augenaufschlag beende ich mein Gespräch mit Veronica und setze meinen Weg zu Mr. Barclays Haus fort.

Sie scheint mich zu hassen, aber das juckt mich nicht. Niemand auf diesem Hof mag sie – ich auch nicht. 

Gereizt betrete ich das Gebäude, um Mr. Barclay in seinem Büro aufzusuchen. Der Weg dorthin ist mir allerdings unbekannt sowie das komplette Haus von innen. Für eine Besichtigung gab es noch keine Gelegenheit. Ich staune über die konservative Einrichtung. Es ist alles stilgerecht und formschön, aber für meinen Geschmack zu extravagant. Die Schränke verziert, die Teppiche mit feinsten Mustern gewebt, die Wände sind bedeckt mit einer eleganten Seidentapete, die Gardinen aus exquisitem Zwirn gefertigt. Wirklich fein – aber für einen jungen Mann wie David Barclay eher unpassend. Warum renoviert er nicht einmal? Nicht, dass es nötig wäre, aber man könnte mit einem neuen Look mal frischen Wind hier reinbringen. Ich will nicht behaupten, dass man dieses alte Herrenhaus zu einer Villa Kunterbunt verwandeln sollte, aber ein bisschen neuzeitliches Flair würde nicht schaden. Die Einrichtung erdrückt einen ja förmlich. Kein Wunder, dass Mr. Barclay immer so schlecht drauf ist. 

„Kann ich Ihnen helfen? Und darf ich fragen, wer Sie sind und wohin Sie wollen?“, fragt mich eine elegant gekleidete Dame reiferen Alters.

„Oh, ich suche  Mr. Barclays Büro.“

„Wer hat Ihnen denn gesagt, dass Sie in diesem Flügel des Hauses danach suchen sollen?“, bemerkt sie abschätzig. „Sie scheinen neu zu sein.“

„Na ja, schon. Tut mir leid, aber wohin muss ich nun gehen?“

Wer ist das? Die tut ja so, als wäre sie der Hausgeist persönlich. Ich hatte nicht vor, sie beim Spuken zu stören. 

„Wie ist Ihr Name, junges Fräulein?“, erkundigt sie sich unerwartet.

„Mein Name ist Jennifer Robertson. Und mit wem habe ich das Vergnügen?“, frage ich kratzbürstig, denn mir missfällt der Ton dieser blasierten Giftnudel.

„Also, das ist ja unerhört! Sie erwarten doch nicht, dass ich mich Ihnen vorstelle. Sehen Sie zu, dass Sie sich fortscheren. Ich werde mit meinem Sohn über Ihr Verhalten diskutieren.“

Ja, diskutiere, mit wem du willst. Nur kenne ich jetzt immer noch nicht den richtigen Weg. Danke für die Kooperation. Blöde Gans! 

„Ihr Kleid ist übrigens am Hintern gerissen. Guten Tag Mrs. ‚Wieauchimmer’.“

Bevor ich genau beobachten kann, wie tief ihre Kinnlade fällt, drehe ich mich um und gehe. Ich höre sie mir noch hinterherschimpfen, bis die Entfernung zwischen uns groß genug ist und ihre Worte mich nicht mehr erreichen. Was kann ich dafür, wenn hier kein Wegweiser ist und ihr Kleid einen Riss bis zum Boden hat?  

Sie will mit ihrem Sohn über mich diskutieren. Na und? Warte mal ... jetzt begreife ich erst. Sie ist David Barclays Mutter. Das hätte sie auch gleich sagen können. Aus welchem Grund hält sie es nicht für nötig, sich vorzustellen? Glaubt sie, alle Welt müsste sie kennen, nur weil sie Barclay heißt? Manche Menschen überschätzen sich maßlos. 

Mein Weg führt mich in den gegenüberliegenden Flügel des Hauses. Von Weitem nehme ich leises Geraschel aus einem der offenstehenden Räume wahr. Ich folge dem Geräusch und sehe Mr. Barclay an seinem Schreibtisch sitzen. Hier bin ich also richtig. Lautlos schreite ich durch die offene Tür und begebe mich in die Mitte des Raumes. Ich beobachte Mr. Barclay, der mich offensichtlich nicht bemerkt hat. Wenn du wüsstest, was du für eine stachelige, spröde Schachtel zur Mutter hast, würdest du sicher vor Scham vom Dach des Hauses springen. Himmel, bin ich froh, dass meine Tante zwar skurril, aber ansonsten ein herzensguter Mensch ist. Eine Kindheit mit einer derart herrischen Mutter ist garantiert nicht einfach für ihn gewesen. 

Weil Mr. Barclay weiterhin nicht auf mich aufmerksam wird, entscheide ich mich, direkt draufloszureden.

„Hören Sie, Mr. Barclay. George kann überhaupt nichts dafür. Ich habe Charly für Sie aufgezäumt und ich kann Ihnen versichern, dass ich mir die größte Mühe dabei gegeben habe.“

Erstaunt über meine unerwartete Anwesenheit schaut Mr. Barclay von seinen Papieren auf, die er in der Hand hält und bis eben noch konzentriert gelesen hat. Aber ich gebe ihm keine Chance, etwas auf mein Bekenntnis zu erwidern, denn ich rede sofort weiter.

„’Knochi’… ich meine Mr. Downey hatte längst Feierabend gemacht und George mich darum gebeten, für ihn einzuspringen, da er einen wichtigen Termin einhalten musste. Falls ich bei meinen Bemühungen tatsächlich etwas falsch gemacht haben sollte, entschuldige ich mich dafür. Aber ich finde, dass dies noch lange kein Grund ist, so unverhältnismäßig laut zu werden. Schließlich machen wir alle mal Fehler. Oder glauben Sie im Ernst, Sie wären perfekt? Ich kann das von mir jedenfalls nicht behaupten. Daher würde ich mir niemals anmaßen, meine Mitmenschen in einem derartigen Ton zurechtzuweisen. Finden Sie nicht ebenso, dass man jeden behandeln sollte, wie man selbst behandelt werden möchte? Wie oft am Tag werden Sie in einem solchen Ton zusammengestaucht? Ihre Mitarbeiter sind Ihnen gegenüber alle loyal. Sie machen ihre Arbeit, so gut wie sie können, und keiner klagt über seinen Lohn oder über die harten Arbeitsbedingungen. Was bleibt ihnen auch anderes übrig? Sie sind froh, dass Sie ihnen Arbeit geben. Es ist nicht nötig, so mit den Leuten umzuspringen. Falls Sie jedoch der Meinung sind, ich hätte es verdient, angebrüllt zu werden, stehe ich dieser unzulänglichen Erziehungsmethode jetzt gern zur Verfügung.“

So, ich habe gesagt, was zu sagen ist. Nun kann er drauflospoltern. 

Abwartend blicke ich zu David Barclay und warte auf mein Donnerwetter. Jetzt wäre sein Einsatz. Warum sagt er nichts? Er lässt das Schreiben, das er bis eben fest in der Hand hielt, auf den Schreibtisch fallen und lehnt sich bequem in seinem Sessel zurück. 

Ich habe dir den Ball zugespielt. Sag schon was! Das ist dein Part. Schrei drauflos! Mach schon!

„Ihr plötzliches Schweigen lässt mich vermuten, dass Sie Ihren impulsiven Vortrag nun beendet haben, Miss Robertson.“

Ich erwidere nichts auf seine Anmerkung und sehe ihn fragend an. Mit einer derart beherrschten Reaktion habe ich nicht gerechnet. Das bringt mich glatt aus dem Konzept. Ich muss meine Lage umgehend neu einschätzen. 

„Wenn ich Sie richtig verstanden habe, behagen Ihnen hier ein paar Dinge nicht?“

Erwartungsvoll sieht er mich an, doch ich schweige weiterhin. Wo ist mein Faden? Ich muss ihn finden, damit ich weiß, wo ich anknüpfen kann. Eigentlich dachte ich, wir würden uns anschreien – darauf war ich eingestellt. Nicht aber auf das, was gerade folgt. 

„Bestimmt können Sie mir ein paar Beispiele nennen, auf die sich Ihre hemmungslosen Anschuldigungen stützen, die Sie mir gegenüber äußerten.“

Um ehrlich zu sein, nein. Ich kann nicht ein einziges Beispiel nennen – lediglich das heutige, denn ich habe ihn zuvor nicht einmal cholerisch erlebt. Allein sein Ruf eilt ihm voraus. Und die Geschichten meiner Kollegen kann ich wohl kaum als Beleg gelten lassen. Aussage gegen Aussage. Der Angeklagte ist mangels Beweisen freizusprechen. Das Urteil ist gesprochen und die Verhandlung als beendet zu erklären. Eujeujeu! 

„Nicht direkt. Ich gebe zu, ich beziehe mich lediglich auf die Berichte meiner Kollegen und meiner soeben gemachten Erfahrung mit Ihnen, aber ...“

„Also bleiben wir doch mal bei den Fakten, Miss Robertson“, fällt er mir ins Wort. „Sie fühlen sich ungerecht behandelt, weil ich mich in Mrs. Stephens Gegenwart verärgert über eine Arbeit geäußert habe, die nicht unbedingt dem Standard entsprach, der auf einem Gutshof wie Rosefield erwartet wird. Eine Arbeit, die Sie nach eigenen Angaben nach allen Regeln der Kunst und unter größter Mühe zustandegebracht haben. Jetzt frage ich Sie als Erstes, weshalb Sie sich von mir denunziert fühlen, obwohl meine zugegeben beträchtliche Rage Sie nicht einmal persönlich getroffen hat? Und beantworten Sie mir noch eine zweite Frage: Wenn Sie mit Ihrem Unternehmen profitabel wirtschaften möchten, was würden Sie mit Mitarbeitern machen, die sich zwar Mühe geben, aber unrentabel arbeiten?“

Verstehe schon. Dann werde ich mir wohl einen neuen Job suchen müssen. Ich habe gerade meine Kündigung heraufbeschworen. Das hab ich nun davon. Warum muss ich auch immerzu sagen, was ich denke? Könnte ich nicht mal meine Meinung für mich behalten? Ich Esel! 

„Gut“, beginne ich zu sprechen „ich verstehe durchaus, was Sie mir damit sagen wollen. Meine Arbeit ist unrentabel und daher schade ich dem Unternehmen. Also werden Sie mir nun kündigen. Da kann ich ja von Glück sagen, dass Sie mir so viel Zeit zur Einarbeitung gegeben haben. Die meisten beherrschen diese Arbeit wahrscheinlich schon nach ein paar Minuten“, bemerke ich höhnisch. „Ich will nicht leugnen, dass ich zuvor in einer anderen Sparte tätig war ...“

„Na dann erzählen Sie doch mal, was Sie vorher gemacht haben“, durchkreuzt er meinen begonnenen Satz und verschränkt die Arme vor seinem Oberkörper.

„Ich bin gelernte Krankenschwester. Und Sie können mir glauben, dass ich diesen Beruf gewiss nicht in zwei Monaten erlernt habe.“

„Glauben Sie denn, dass ich das von Ihnen erwartet habe?“, fragt er in einem feinfühligen Ton.

Ich sehe ihn abwägend an und rätsle, worauf er hinauswill.

„Ehrlich gesagt habe ich das Gefühl, dass Sie aufgrund meines Fehlers meine gesamten Fähigkeiten infrage stellen.“

Was will ich jetzt damit ausdrücken? Etwa die Infragestellung meiner Fege-Fähigkeiten? Vielleicht hat er Recht und ich tauge nicht für die Arbeit auf einem Gutshof.

„Aber Miss Robertson, ich stelle gar nichts infrage. Ich dachte nur, es könnte nicht schaden, Ihren Blickwinkel etwas zurechtzurücken. Und prompt sind Sie ganz allein zu dem Schluss gekommen, dass eine fehlerhafte Arbeit einem Unternehmen schaden kann. Ich kann mich jedoch nicht erinnern, Ihnen gegenüber eine Kündigung ausgesprochen zu haben, und das hatte ich auch nicht vor.“

Nicht? Er will mich nicht rausschmeißen? 

„Aber was erwarten Sie dann von mir?“, frage ich ihn verwundert.

Auf einmal erhebt sich David Barclay von seinem Stuhl und geht auf mich zu.

„Zum einen, dass Sie zukünftig anklopfen, bevor Sie mein Büro betreten.“

Ich räuspere mich peinlich berührt.

„Zum anderen bitte ich Sie um ihre objektive Meinung, unbeeinflusst von den Ansichten Ihrer Kollegen. Ich finde, diese Chance sollten Sie mir geben.“

Seine Augen gewinnen an Farbe und Helligkeit. Es ist ihm also wichtig, welche Meinung ich mir über ihn bilde. Weshalb? 

„Und unter uns, Miss Robertson, mir ist bewusst, dass Ihnen die Arbeit hier wichtig ist. Mr. Downey erzählte mir, dass sie unermüdlich sind und ihm seine Arbeit bereits abwerben.“

„Ich werbe sie ihm nicht ab!“, unterbreche ich ihn empört. „Es ist nämlich so, dass Mr. Downey nicht mehr so kann und ...“

„Ist schon gut, Miss Robertson. Ich nehme Ihr Arrangement wohlwollend zur Kenntnis. Lassen Sie sich morgen von Mr. Downey zeigen, wie man ein Pferd sattelt und wir vergessen diesen Zwischenfall. Und um Ihre Frage von vorhin zu beantworten: Ich erwarte von niemandem, perfekt zu sein, auch nicht von mir selbst.“

Er macht eine Pause und scheint prüfen zu wollen, ob mich seine Worte erreicht haben. Ich gebe zu, sie haben mich überzeugt. Ich war ungerecht und habe mir eine vorschnelle Meinung über ihn gebildet. Verstummt schaue ich ihm ins Gesicht. Er hat mich kampfunfähig gemacht. Das gelingt nur wenigen. Ich habe fast immer das letzte Wort. Jetzt fühle ich mich ertappt und dazu noch bloßgestellt. Als ich sein Büro betrat, waren die Vorzeichen andere. Da war ich mir sicher, mich mit Recht über ihn erzürnen zu dürfen. Leider habe ich nicht einkalkuliert, dass ich seine Gefühle verletzen könnte. Er tritt direkt vor mich und fährt über meine Stirn. Reglos lasse ich die Berührung zu und fühle seine warme Hand. 

„Als Krankenschwester sollten Sie aber sorgsamer mit sich selbst umgehen, Miss Robertson. Sie haben eine kleine Verletzung am Kopf. Lassen Sie mal sehen.“

Ich erstarre, als mir auffällt, wie nah wir uns sind. 

„Das sollten wir besser desinfizieren. Die Wunde scheint verunreinigt zu sein. Ich muss Ihnen wohl nicht erklären, was das für Folgen haben kann. Kommen Sie mal mit in den Nebenraum. Da müsste ich Jod im Schrank versteckt haben.“

Schweigend folge ich ihm in ein anderes Zimmer und beobachte ihn dabei, wie er aus einer Schublade ein braunes Fläschchen herauskramt. Er träufelt ein paar Tropfen der Flüssigkeit in ein Taschentuch und tupft es mir auf die Stirn. Es brennt teuflisch und erst jetzt nehme ich meine Verletzung wahr, die ich mir beim Sturz im Stall zugezogen haben muss. Wenn Mr. Barclay sie nicht entdeckt hätte, wäre sie mir kaum aufgefallen. 

Ich verziehe mein Gesicht vor Schmerz, gebe aber keinen Laut von mir. 

„Das schmerzt jetzt bestimmt etwas. Wo haben Sie sich diese Wunde bloß zugezogen?“

„Ich bin vorhin im Stall gestolpert, als ich versucht habe, Charly für Sie zu satteln“, antworte ich. 

„Sie sind wirklich sagenhaft“, bemerkt er belustigt. „Erst verrichten Sie an Charly eine regelrechte Knebelung und dann brechen Sie sich dabei fast den Hals. Auf Sie muss ich wohl ein verstärktes Auge werfen. Ihr Arrangement in allen Ehren, aber achten Sie mehr auf sich. Das ist eine Dienstanordnung. Und jetzt gehen Sie nach Hause und erholen sich. Morgen früh möchte ich Sie hier nicht sehen. Es reicht, wenn Sie in zwei Tagen zurück sind.“

„Aber mir geht es gut. Ich möchte morgen wiederkommen“, protestiere ich sofort.

Was soll ich zu Hause? Da gibt es nichts zu tun. Abgesehen von ein paar Hausaufgaben, die ich für den kommenden Unterricht fertigstellen muss. Dafür benötige ich aber höchstens eine Stunde.

„Keine Widerrede, Sie gehen jetzt heim!“

Er dreht mich an den Schultern herum und drückt mich zum Ausgang. Also gut, wenn das so ist, kann ich mich meines Schicksals nicht erwehren. Dann geh ich eben. Doch schlagartig fällt mir noch was ein und ich drehe mich wieder zu ihm herum. Ich erschrecke, als meine Nase mit seinem auf mich herabsehenden Gesicht kollidiert. Er lächelt beschwingt und fast hätte ich vergessen, was ich von ihm wollte.

„Ja?“, fragt er, während er meine Gesichtszüge aufmerksam studiert.

„Danke. Ich meine ... na ja, einfach danke. Ich werde über Ihre Worte nachdenken.“

„Das habe ich gehofft“, antwortet er erfreut.

So? Hat er das? Nachdenklich mustere ich ihn. Mit einem warmen Lächeln sieht er mich an und wartet auf ein weiteres Wort von mir, doch ich bringe nur ein letztes Nicken zustande und verlasse verwirrt den Raum.

 

Das Ungeheuer von Rosefield

 

Geduldig erklärt mir Jacob Downey schon seit einer Stunde das Aufzäumen an Charly. Diese zahllosen Schnallen am Zaumzeug erfüllen sicher alle ihren Zweck, nur warum müssen es so viele sein? Falls nicht ein Wunder geschieht, merke ich mir nie und nimmer, wie die Lederriemen über Charlys Kopf gezogen werden müssen.

Jacob und ich sind inzwischen übereingekommen, uns beim Vornamen zu nennen. Schweren Herzens habe ich den Spitznamen für ihn aus meinem Gedächtnis gelöscht. Selbst wenn er ein herumspringendes Skelett wäre, „Knochi“ wird ihm wirklich nicht gerecht. Ich mag ihn. 

„Aber Jenny, das ist doch nicht so schwer“, behauptet Jacob. „Fang stets mit der Gebissstange an, dann kannst du kaum mehr was falsch machen, da es lediglich diese eine Lösung gibt.“

Das sagst du so einfach.

„Schau mal, die Schnalle ziehst du über seine Ohren und nun brauchst du sie nur hier verschließen. Siehst du – so. Nun probier’s mal in aller Ruhe allein. Ich komme es gleich noch mal kontrollieren.“

Wer hat sich bloß diese verworrenen Pferdezügel ausgedacht? Und weshalb muss man den Pferdekopf verschnüren wie ein Postpaket? Falls ich jemals kapiert habe, wie ich Charly dieses Ding um den Kopf wickle, kann ich auch gleich reiten lernen. Das sollte kaum schwerer sein.

Während ich die Lederbänder abwechselnd an Charly anhalte, um die richtige Halfterposition auszuloten, schweifen meine Gedanken zu David Barclay ab. Seit diesem Gespräch vor zwei Tagen hat sich meine Meinung über ihn geändert. Ich sehe nicht mehr den Choleriker in ihm. Seine feinfühlige Argumentation lässt einen tiefgründigen Einblick in seine Seele zu. Vielleicht nicht für jeden, doch mir ist sofort aufgefallen, dass mehr hinter der Fassade steckt, als es anfänglich den Anschein hatte. Ich gebe zu, er hat mich überzeugt. Trotzdem bleibe ich dabei, dass meine kleine Panne mit Charly nicht eine derart heftige Reaktion verlangt hätte. Etwas mehr Humor würde ihm nicht schaden.  

Gedankenverloren arbeite ich mit dem Zaumzeug herum. Charly kaut beharrlich auf der Gebissstange, die ich ihm vor gut einer Viertelstunde verdreht ins Maul gesteckt habe und lässt mich gleichmütig an seinem Kopf herumhantieren. Als ich eine weitere Viertelstunde später alles richtig gemacht habe, trifft mich fast der Schlag vor Freude. Nichts ist aufregender als ein Erfolgserlebnis. Es lohnt sich eben, nicht vorschnell die Flinte ins Korn zu werfen. Wie gut, dass ich in allen Lebensbereichen hartnäckig bin. Aufgeben gehört nicht zu meinen Tugenden. 

Ich muss Jacob meinen Fortschritt zeigen. Erfolge machen keinen Spaß, wenn man sie nicht mit jemandem teilen kann. Begeistert laufe ich zur Tür und reiße sie freudestrahlend beinahe aus den Angeln, als ich mich schwungvoll dagegendrücke. Gerade will ich nach Jacob rufen, als ein bellendes schwarzes Untier auf mich zugestürzt kommt und meinen Ruf im Keim erstickt. Kläffend bleibt es vor mir stehen. Die Angst steht mir ins Gesicht geschrieben, zumal kein Mensch in Sicht ist, der mir aus dieser brenzligen Situation helfen könnte. Den Versuch, es mit ein paar besänftigenden Worten zum Aufgeben zu bewegen, kann ich im Vorfelde für wirkungslos erklären. Es ist mir noch nie gelungen, einen Hund zu beruhigen. Eher führten sämtliche Beruhigungsversuche dazu, dass alles nur schlimmer wurde. Was soll ich also tun? Ich könnte ihm meinen Arm zum Fraß hinwerfen. Dann wär ich zwar meinen Arm los, aber ich könnte wenigstens weiterleben. Langsam gehe ich rückwärts, doch der Hund sorgt für einen konstanten Abstand zwischen uns, indem er jeden Schritt in meine Richtung mitmacht. Wenn ich wenigstens wüsste, ob ich gleich zu seiner Beute werde oder er mich bloß ein paar Stunden anbellen möchte. Dieses Wissen wäre durchaus hilfreich. Ich könnte mich entscheiden, schnell über ein paar Änderungen in meinem Testament nachzudenken oder aber abwartend meine Arme zu verschränken, bis jemand zu meiner Rettung herbeieilt. Unter den aktuellen Umständen muss ich jedoch abwarten und zugleich meinen letzten Willen verfügen. Das ist unersprießlich.

„Was ist das hier für ein Radau?!“, brüllt eine Stimme, die sich nähert. 

Erlösung ist in Sicht. Mr. Barclay kommt um die Ecke und sieht auf sein Untier und danach auf mich. Sofort eilt er zum Hund und ergreift ihn am Halsband.

„Ja, Clark, was ist denn los mit dir? Was regt dich so auf?“, redet er sanftmütig mit der Bestie, um sie zu beruhigen, während er neben ihr kniet und sie liebevoll streichelt. Wie schön, dass ihm das Wohl seines Raubtieres Clark so wichtig ist und es offensichtlich keine Rolle spielt, welche seelischen Blessuren mir diese Bellattacke zugefügt hat.

„Danke, mir geht es gut“, bemerke ich ungefragt. 

„Ja, das sehe ich. Aber ich verstehe nicht, warum Clark sich so aufführt. So hat er sich noch nie benommen. Er ist üblicherweise ein friedsames Tier. Haben Sie etwas getan, was ihn gereizt haben könnte?“, erkundigt er sich nüchtern.

„Oh ja, das habe ich“, antworte ich gekränkt. „Ich habe mir erlaubt, den Stall zu verlassen und dabei tatsächlich einen Schritt über die Türschwelle gewagt. Das konnte das arme Tier natürlich nicht ahnen. Es musste sich ja förmlich zu Tode erschrecken. Wie gut, dass ich nicht tollwütig bin, sonst hätte ich dem armen Clark womöglich ein Ohr abgebissen.“

Unversehens erhebt sich Mr. Barclay und stampft verärgert auf mich zu. 

„Ich habe Ihnen eine harmlose Frage gestellt, Miss Robertson. Glauben Sie nicht, es wäre höflich, einfach darauf zu antworten? Ihren anzüglichen Unterton finde ich absolut unangebracht.“

„Und was glauben Sie, wie ich mich dabei fühle, von einem missgelaunten, nicht angeleinten Hund in die Mangel genommen zu werden, während niemand in der Nähe ist, um mir zu helfen? Haben Sie daran mal gedacht? Es ist wirklich umsichtig von Ihnen, sich gleich um ihren armen Hund zu kümmern, dessen Verhalten Ihnen anscheinend Sorge bereitet. Können Sie sich eigentlich vorstellen, dass ich bis eben eine Heidenangst hatte? Dass Ihr Interesse lediglich dem Hund gilt, finde ich ziemlich unangebracht!“

Seine verdunkelten Augen machen mir seine Verärgerung über mich deutlich. Ich wüsste gern, wie dunkel meine in diesem Augenblick glühen? Falls giftgrüne Augen dunkel glühen können. Denn meine Empörung scheint seinen Unmut bei Weitem zu übersteigen. Und damit meine kleine Explosion nicht zu einer gewaltigen Detonation ausufert, beschließe ich, augenblicklich zu gehen. Doch Mr. Barclay zieht mich schroff am Arm zurück. 

„Ich glaube nicht, dass wir beide bereits fertig miteinander sind“, stellt er schonungslos fest.

Also, was mich angeht schon. Ich bin fix und fertig. Jetzt brauche ich erst mal Zeit, mich von diesem Schreck zu erholen.

„Ich finde, wir sollten uns mal über Ihr Benehmen unterhalten, Miss Robertson.“

Was?! Mein Benehmen? Da wüsste ich aber ein viel besseres Thema: nämlich sein eigenes! 

Wortlos halte ich seinem Blick stand und warte auf die Fortsetzung seiner Moralpredigt.

„Da Sie offensichtlich von Ihren Mitmenschen erwarten, sich immer im Sinne Ihres Rechtsempfindens zu verhalten und Sie ihnen wenig Spielraum lassen für andere Handlungsweisen, sollten Sie damit rechnen, dass andere von Ihnen das Gleiche erwarten.“

„Ich verstehe nicht ganz, Mr. Barclay. Bestimmt erwarte ich nichts von meinen Mitmenschen. Und es handelt sich auch nicht um mein eigenes Rechtsempfinden, sondern um das eines jeden Menschen.“

Er kann doch nicht ernsthaft meinen, dass ich es angemessen finde, wenn er zuerst den Hund nach seinem Befinden fragt, bevor er auf mich aufmerksam wird, obwohl sein Monster den Streit mit mir gesucht hat und nicht ich mit ihm. Unfassbar!

„Ihrer Ansicht zufolge“, knüpft er nun an, „würde also jeder aufgrund dieses Rechtsempfindens sich eines ungezügelten Tons gegenüber meiner Mutter bedienen?“ ...

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